Tagungsbericht: 'Schreiben für übermorgen'. Forschungen zu Werk und Nachlass von Günther Anders (Wien, 28.-29.11.2014)

Im Rahmen des FWF-Projekts „Günther Anders: Erschließung und Kontextualisierung ausgewählter Schriften aus dem Nachlass“ fand von 28. bis 29. November 2014 am Wiener Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK) die internationale Tagung „‚Schreiben für übermorgen‘. Forschungen zu Werk und Nachlass von Günther Anders“ statt. Unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann (Universität Wien, Institut für Philosophie) und Priv.-Doz. Dir. Dr. Bernhard Fetz (Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek) wurde die Konferenz von den beiden wissenschaftlichen ProjektmitarbeiterInnen Reinhard Ellensohn (Universität Wien, Institut für Philosophie) und Kerstin Putz (Literaturarchiv der ÖNB) konzipiert und gemeinsam mit dem Team des IWK organisiert.Die Veranstaltung richtete sich vor allem an Nachwuchs-WissenschaftlerInnen, die zu Günther Anders und dessen nachgelassenen Schriften forschen oder den Anders-Nachlass als Forschungsquelle für verwandte Projekte nutzen. Die Konferenz-Panels umfassten die drei Themenbereiche „Technikphilosophie“, „Geschichtsphilosophie“ und „Literatur – Anthropologie – Musik“.Nach der Begrüßung durch Konrad Paul Liessmann und Bernhard Fetz stellten zunächst Kerstin Putz und Reinhard Ellensohn die Ergebnisse ihres Forschungsprojekts, die geplanten Editionen aus dem Nachlass und einzelne Perspektiven der Forschung rund um den Nachlass von Gunther Anders vor. Danach führten sie in das Tagungsmotto „Schreiben für übermorgen“ ein: Seine Arbeiten aus den Exiljahren bezeichnete Günther Anders einmal als „Texte für übermorgen“, die er – wie viele exilierte europäische bzw. deutsch-jüdische Intellektuelle – an ein postnazistisches Deutschland richtete, in das man hoffte alsbald wieder zurückkehren zu können. Viele dieser Arbeiten blieben, ob der mangelnden Publikationsmöglichkeiten und der fehlenden intellektuellen Infrastruktur, unveröffentlicht und befinden sich – vielfach bis heute unpubliziert – im Nachlass am Literaturarchiv der ÖNB.Nach dieser thematischen Einführung zeichnete Christian Dries die Entwicklung der Anders-Forschung von den 1980er und frühen 1990er Jahren bis in die Gegenwart nach. Nach einer ersten Phase, in der die Forschung im Wesentlichen um eine (zum Teil streng affirmative, werkimmanente) Nachzeichnung von Anders’ Thesen bemüht war, sei es heute mehr denn je an der Zeit, Anders’ Positionen in rezente Diskurse einzubringen, sie in kritischer Auseinandersetzung für aktuelle Theoriebildungen in verschiedenen Disziplinen nutzbar zu machen. Eine solche Ausdifferenzierung der Anders-Forschung ließ sich sicherlich an den darauf folgenden Tagungsbeiträgen beobachten.Im ersten Konferenz-Panel zur Technikphilosophie referierten zunächst Natascia Mattucci und Jason Dawsey, danach Timo Kaerlein und Christopher John Müller.Natascia Mattucci zeichnete in ihrem Vortrag die Anders’sche Technikkritik und deren Leitmotiv der Diskrepanz nach – auch vor der Folie von Hannah Arendts Unterscheidung der Vita Activa in Arbeiten, Herstellen, Handeln, sowie deren Überlegungen zur Kategorie des Bösen. Im Anschluss daran fragte Mattucci nach den moralischen und handlungstheoretischen Konsequenzen einer technisierten Welt, in der Menschen „ihre“ Technik nicht aktiv nutzten, sondern umgekehrt zum Instrument dieser Technik geworden seien: Angesichts der Diskrepanz zwischen (automatisierter) Arbeit und den Möglichkeiten autonomen (politischen) Handelns, sowie der katastrophalen Folgen ebenjener Diskrepanz, sei eine „ethics of the technological era“ zu formulieren.Jason Dawsey sprach unter dem Titel „’Earth’s Encounter with Itself’: Günther Anders’ Der Blick vom Mond and the Formation of a Planetary Consciousness“ über eine von der Forschung tendenziell wenig rezipierte Veröffentlichung von Anders, in der er den Blick auf die Erde, das Ansichtig-Werden der „blue marble“, als das genuin Neue und Entscheidende der Weltraumflüge herausstellte. Dawsey stellte Anders’ Beobachtungen zur Raumfahrt zunächst in den Kontext ihrer Zeit (Blumenberg, Adorno, Bloch u.a.), um im Anschluss vor allem die historischen Zusammenhänge militärischer und ziviler Weltraumforschung und den damit verbundenen Technologietransfer aus NS-Deutschland in die USA (am Beispiel Wernher von Brauns und dessen problematischer Rehabilitierung) zu umreißen.Timo Kaerlein sprach über Anders’ Aktualität im Kontext medienökologischer Diskurse, u.a. mit Rekurs auf den Medienphilosophen Erich Hörl. Kaerlein akzentuierte ein durch die „technische Transzendentalisierung“ verändertes Subjekt-Objekt-Verhältnis und die damit verbundene Notwendigkeit einer Kritik der Technik. Anhand Anders’ unveröffentlichtem Text aus dem Nachlass „Der Traum der Maschinen. Briefe an Powers“ (LIT/ÖLA 237/04) lieferte Kaerlein eine Auseinandersetzung mit dessen Konzept einer „Apparate-Welt“ (und ihrer kybernetischen Implikationen). Entfaltet wurde dabei schließlich auch der Begriff der „Situation“ – und zwar als jener Konstellation, deren Komplexität von technischen Apparaturen nicht eingeholt werden könne.Christopher John Müller referierte – Bezug nehmend auf Siegried Kracauers Buch „Die Angestellten“ (im Englischen als „The Salaried Masses“ erschienen) – über den Wandel von Arbeitswelten angesichts digitaler Technologien und erinnerte dabei etwa an die bereits von Anders diagnostizierte oligarchische Tendenz von Technik und deren immanente Neigung, Gewissen durch Gewissenhaftigkeit zu ersetzen. Von einer „smarten“ Technik, die es unseren Geräten ermögliche „human cognitive functions“ nachzuahmen, bis hin zu jenem Online-Content, den wir – als „unsalaried masses“ – ohne Entlohnung selbst permanent produzierten, ging Müllers Vortrag auf zahlreiche rezente Fragen einer Theorie technisierter, digitalisierter Arbeitswelten ein.Im Nachmittags-Panel Geschichtsphilosophie referierten Laurin Mackowitz und Julia Grillmayr. (Ann-Kathrin Pollmann und David Michaelis hatten ihre Teilnahme leider abgesagt.)In seinem anregenden Vortrag äußerte sich Laurin Mackowitz – u.a. mit Rekurs auf Walter Benjamin und Albert Camus – kritisch über Anders’ radikalen geschichtsphilosophischen Pessimismus, dessen Begriff der „Apokalypseblindheit“ und dessen Kritik jedweden „Hoffens“. Die intensiv und durchaus kontroversiell geführte Diskussion dieses Beitrags stellte einmal mehr die Radikalität des Anders'schen Pessimismus, als auch die Schwierigkeiten an diesen produktiv anzuschließen vor Augen.Julia Grillmayr zeichnete in ihrem Beitrag die Anders-Rezeption im zeitgenössischen französischen catastrophisme éclairé, insbesondere des französischen Philosophen Jean-Pierre Dupuy, nach. Sie entfaltete dabei den rezenten französischen Diskurs über die Apokalypse als einen – im etymologischen Sinn des Wortes – der „révélation“. Inwiefern ein solches apokalyptisches Denken aus der Perspektive des Futur II „nach dem Ende der Welt“ (Michaël Foessel) einen hedonistischen Umgang mit dem Katastrophischen ermögliche, wurde anschließend rege diskutiert.Abends luden die VeranstalterInnen zur Präsentation des neu erschienen Forschungsbandes „The Life and Work of Günther Anders. Émigré, Iconoclast, Philosopher, Man of Letters“ (hg. v. Günter Bischof, Jason Dawsey, Bernhard Fetz; Studienverlag 2014) im Wiener TopKino. Bernhard Fetz und Jason Dawsey führten in den Band ein. Danach fand eine Filmvorführung von Zlatko Valentic und Christian Dries mit anschließender Diskussion und Umtrunk in der TopKino-Bar statt.Am zweiten Konferenztag, dem 29. November, referierten Maria Pia Paternò und Micaela Latini sowie Camilla Passigli und Christina Nurawar Sani im Rahmen des Panels Anthropologie – Literatur – Musik.Maria Pia Paternò sprach über die Verbindungen zwischen Philosophieren und Erzählen bei Anders, wobei sie zunächst Anders’ Überlegungen zur Anthropologie in einer historischen Linie von Leopardi über Nietzsche, Scheler und Gehlen kontextualisierte, um schließlich vor allem auf die „Konkretheit“ der Anders’schen Theorie, auf deren Forderung nach der Kultivierung einer moralischen Phantasie zu rekurrieren: Literatur und die Künste im Allgemeinen seien mit Anders als konkrete Mittel zur Herausbildung einer solchen Phantasie gefordert (Paternò sprach in diesem Zusammenhang von einer „Literatur der Anteilnahme“). Mit Adriana Cavareros Theorie der Narration schließlich lieferte Paternò Anstöße zu einer weiterführenden Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Erzählen auf der einen, philosophischer Theoriebildung auf der anderen Seite.Unter dem Titel „Letzte Bilder: Günther Anders und die Literatur“ sprach Micaela Latini u.a. über die Motive des Unheimlichen und der Unbehaustheit, die in Anders’ Aufsätzen zur Literatur eine zentrale Rolle spielen. Vor allem in Anders’ Essays über Kafka und Döblin wird dies schlagend. Anders’ eigenes, produktives Changieren zwischen Literatur und Philosophie, mithin seine Weigerung  zwischen den beiden Aussagemodi zu wählen, illustrierte Latini u.a. anhand einer bemerkenswerten Stelle aus einem Brief an Thomas Mann, in dem Anders mitteilt, dass er auf jenen (für sich) „günstigen Augenblick“ warte, in dem sich die Differenz zwischen Literatur und Philosophie „neutralisiert“ habe.Camilla Passigli und Christina Nurawar Sani referierten beide zur frühen Musikphilosophie von Anders und fokussierten dabei vor allem auf den Begriff des „Nicht-in-der-Welt-seins“, mit dem Anders die musikalische Situation charakterisierte. Camilla Passigli verwies auf Parallelen zur frühen Anthropologie von Anders und interpretierte das musikalische „Nicht-in-der-Welt-sein“ im Hinblick auf die „Weltfremdheit“ des Menschen. Die ekstatische Dimension der Musik und die Rolle der Säkularisierung für diese Form der Musikrezeption bzw. -interpretation wurden in diesem Zusammenhang erörtert.Christina Nurawar-Sani deutete die musikalische Situation vor der Folie von Heideggers Existentialontologie und Anders’ früher Anthropologie als eine spezifische Form des „Nicht-in-der-Welt-seins“ innerhalb des „In-der-Welt-seins“. Dieses gleichsam zweite „Nicht-in-der-Welt-sein“, nachdem der Mensch aposteriori zur Welt gekommenen ist und längst in einem konkreten Weltbezug lebt, lässt diesen Weltbezug erst wieder ausdrücklich werden. Schließlich verwies Nurawar-Sani auch auf einige interessante Parallelen zwischen Anders’ Musikphänomenologie und der hermeneutischen Ästhetik von Martin Seel.Die zweitägige Konferenz bot allen TeilnehmerInnen die Gelegenheit zum Austausch und zur Vernetzung mit KollegInnen, die zu Anders forschen. Die Tagungsbeiträge und die intensiven Diskussionen, in die sich auch die interessierten BesucherInnen aus dem Publikum intensiv einbrachten, zeigten die Vielfalt und das Potential neuer Forschungsansätze rund um Werk und Nachlass von Günther Anders.Ein gemeinsames Essen in geselliger Atmosphäre ließ die Tagung schließlich ausklingen. 

Kerstin Putz, Reinhard Ellensohn

Dezember 2014

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Neuerscheinung: The Life and Work of Günther Anders